1 Jahr nach dem Anschlag von Hanau

Rede der IL Aschaffenburg zur Kundgebung am 19.02.2021

Rede der IL Aschaffenburg zur Kundgebung am 19.02.2021

Ein Jahr nach dem Anschlag von Hanau

Es ist gerade einmal ein Jahr her. Ein Jahr der Trauer, ein Jahr der Solidarität, ein Jahr der bitteren Enttäuschung, aber auch ein Jahr des Widerstandes. Was am 19.02.2020 in Hanau geschah, lässt sich immer noch nur schwerlich fassen. Die reale Gefahr des Rassismus wurde uns wieder einmal vor Augen geführt.
Der Täter hatte in zwei Bars am Hanauer Heumarkt und dann in einem Kiosk in Kesselstadt neun Menschen erschossen und weitere schwer verletzt. Er war geübt im Umgang mit Schusswaffen. Er begründete seine Tat bereits im Vorfeld. Seine Motivation? Ein rassistisches Weltbild, dass sich in tödlicher Konsequenz entfaltete.

Diese Gewalt ist grauenvoll, aber nichts Neues: Rassismus tötet nicht erst seit Hanau. Rassistische Morde haben in der BRD eine Kontinuität:

Lübeck ist nun 26 Jahre her. Zehn Menschen wurden ermordet. Saarbrücken ist drei Jahrzehnte her. Samuel Yeboah wurde ermordet. Keine Einzelfälle, ein einziger Dauerzustand: seit 1990 starben über 200 Menschen in Deutschland durch rechten Terror. Eines der ersten ersten Todesopfer rassistischer Gewalt nach 1990 war Amadeu Antonio Kiowa. Danach zeigt sich eine jahrzehntelange Kontinuität rassistischer und neonazistischer Morde in Deutschland: tödliche rassistische Anschläge wie in Mölln, Solingen, Lübeck, Saarbrücken, die Opfer des NSU, oder Mord im Polizeigewahrsam, wie der Mord an Oury Jalloh, der Anschlag in Halle auf eine Synagoge. Als im Sommer 2019 ein rassistischer Mordversuchs auf Bilal M. in Wächtersbach verübt wird, bleibt ein gesellschaftlicher Aufschrei aus. Und dann am 19.2., vor einem Jahr, Hanau. Damit nicht genug, die Anschläge auf Shisha-Bars und migrantische Menschen haben auch danach nicht aufgehört.

Kontinuität

Diese jahrzehntelange Kontinuität wird weitgehend nicht anerkannt, nicht gehört. Fälle bleiben wenig bekannt, wie Saarbrücken. Die Täter werden als Einzeltäter verharmlost. Die die AFD hetzt weiter, die breite Masse schweigt. Rechtsterroristen wie Franco Albrecht, der hier in Offenbach unbehelligt lebt, schreiben Listen mit Feind:innen, beschaffen Waffen und Munition und hegen nicht nur beste Kontakte zum rechten Netzwerk Uniter, sondern auch zur Bundeswehr und weiteren Staatsbehörden. Es handelt sich nicht um Einzeltäter. Diese Netzwerke sprechen eine ganz andere Sprache, hier werden Attentäter wie von Christchurch oder Halle bejubelt, gehen um die ganze Welt und werden in diesen Netzwerken als Helden gefeiert.

Die rassistische Gewalt reicht weit zurück, ist Teil eines rechten Komplexes aus bundesdeutschem Alltag, Sicherheitsbehörden, Politiker:innen und Nazis. Diese rechte Realität ruft auch den staatlichen Mord an dem Antifaschisten Günter Sare in Erinnerung. Fast vier Jahrzehnte sind seit dem Verbrechen im Frankfurter Gallusviertel verstrichen.

Und das Verhalten der Behörden? Aufklärung, Gerechtigkeit - Fehlanzeige, stattdessen Verharmlosung, Unterverschluss-Haltung von Ermittlungs-Akten, Behördenversagen und Verstrickung in Nazi-Netzwerke. In Frankfurt, Wiesbaden und Berlin versenden Polizist*innen Drohbriefe, die mit „NSU 2.0“, signiert sind. Es zeigt sich ein strukturell rassistisches Verhalten von Ermittlungsbehörden und Gerichten schon seit der Selbstenttarnung des NSU vor 10 Jahren und dem darauffolgenden Prozess. Auch hier wurden Verstrickungen und Strukturen nicht aufgeklärt und es wurde versucht einen Schlussstrich zu ziehen.
Deshalb fordern wir eine umfangreiche Aufklärung, die rechte Netzwerke in Gesellschaft und Staat offenlegt und sämtliche Verbindungen zum Verfassungsschutz und NSU aufdeckt. Wir fordern eine echte Entnazifizierung der deutschen Politik, der Behörden und der Gesellschaft! Wir verteidigen die Gesellschaft der Vielen. Und dabei verlassen wir uns nicht auf staatliche Behörden oder Gerichtsurteile.

Auch, dass migrantische Menschen, Familien, Communities getroffen und nicht geschützt werden, ist nichts Neues. Das kennen wir von den NSU-Morden. Seitdem gab es weitere Anschläge und Morde gegen migrantische und jüdische Menschen in Deutschland. Es ist nicht das erste Mal und auch deshalb wollen wir nichts mehr hören von Einzeltätern. Es gibt keine rechten „Einzeltäter“. Die Täter von Halle, Kassel und Hanau wissen sich als Teil eines weltweiten „Netzwerks von Kameraden“, so hat das schon der NSU formuliert. Das milde Urteil im NSU-Prozess war ein Fanal für die Nazis in diesem Land loszuschlagen.

Doch die Ereignisse von Hanau läuteten auch eine Zäsur von unten ein, nicht zuletzt durch das unglaubliche Engagement der Betroffenen, Angehörigen und ihrer Unterstützer innen.
Es gibt kein Zurück zu einer geordneten Normalität, die für viele, von strukturellem Rassismus betroffene Menschen in Deutschland, sowieso kaum existierte.
Nicht durch Sonntagsreden wichtiger Politiker innen und nicht durch hohle Beteuerungen. Es gilt, eine neue Normalität zu schaffen.

Say their names

Wir trauern und erinnern uns an Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin.
Das heute die Opfer des Anschlags im Mittelpunkt stehen, ihre und die Geschichten ihrer Angehörigen die Erzählung bestimmen, ist ein großer Erfolg der Angehörigen und der Initiative 19. Februar. Sie zeigen, dass der öffentliche Diskurs durch Beharrlichkeit und solidarische Praxis in Bewegung gerät.
Serpil Unvar, die Mutter des ermordeten Ferhat Unvar, sagte: „Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein. Ihr Tod muss das Ende aller rassistischen Angriffe sein, er muss der Anfang sein einer Gesellschaft, in der alle Antirassismus von klein auf lernen, einer Gesellschaft, in der alle gleiche Rechte haben und ohne Angst leben können.“
Die Namen und Gesichter der ermordeten wurden durch Plakataktionen, Graffitti, Straßenumbenennungen in zahlreichen Städten, Interviews und Videoclips in sozialen und etablierten Medien und so vieles mehr, unvergesslich gemacht.
Durch die Erzählungen und Erinnerungen, die Forderungen und Anklagen wurde ein Fundament der Solidarität erzeugt, welches Stütze und Antrieb zugleich ist. Halten wir die Erinnerung wach!

Ein Urteil gegen den Täter wird es nicht geben, und nach den Erfahrungen der Prozesse gegen den NSU oder den Mörder Lübckes drängt sich auch die Frage auf, was solch ein staatliches Urteil denn tatsächlich bedeutet.
Wir wissen, dass wir nicht auf die bauen können, die damals von Döner-Morden und heute von Shisha-Morden reden und von Fremdenfeindlichkeit statt Rassismus – oder die wieder einmal von verwirrten Einzeltätern fabulieren. Betroffenengruppen und die antifaschistische Zivilgesellschaft betonen, dass dieser Anschlag zwar nicht vorhersagbar aber eben auch nicht überraschend kam. Seit Jahren wissen wir von den rechten Netzwerken, ihren Aufstandsfantasien und ihrer Gewaltbereitschaft. Neben den Beteuerungen und Bestürzungen der Mehrheitsgesellschaft steht keine Einsicht, dass rechtsextreme Gewalt und Rassismus bedrohlicher Alltag für viele Menschen in unserer Gesellschaft ist. Im Gegenteil: die Opfer und der Täter sind zum Teil auf dieselbe Schule gegangen, sie haben im selben Viertel gelebt. Aber wer konnte unbehelligt Waffen horten und wer wurde dabei immer wieder problematisiert? Wessen Eltern wurden immer wieder zum Gespräch in die Schule bestellt? Wer wird ständig auf der Straßen angehalten und kontrolliert?

Offene Fragen

In einer Videokundgebung am 14.02.2021 zogen einige der Betroffenen und ihrer Unterstützer*innen Bilanz: Sie kritisierten eine „behördliche Kette des unverzeihlichen Versagens“. Denn über allem stehe die Frage: Hätte der Anschlag verhindert werden können?
Warum erhielt der spätere Attentäter – trotz psychischer Auffälligkeiten – 2013 einen Waffenschein und konnte im Schützenhaus trainieren, 2019 auch bei zwei Übungen in der Slowakei?
Es ist auch weiter ungeklärt, warum ein Notausgang an einem der Tatorte verschlossen war, durch den die Opfer wohl hätten fliehen können. Welche Rolle spielte dabei das Ordnungsamt Hanau?
Warum wurden Notrufe nicht von der Polizei angenommen, darunter auch die des später erschossenen Vili Viorel Păun?
Warum fiel die Internetseite des Attentäters mit seinen Gewaltandrohungen nicht auf, die sechs Tage vor dem Anschlag online stand?
Welche Rolle hat dessen Vater inne, der den Wahn seines Sohnes offenbar teilt und zuletzt in Schreiben an Behörden die Tatwaffen seines Sohnes zurückforderte und das Gedenken an die Opfer als Volksverhetzung schmähte?
So lange es diese offenen Fragen gibt, wird es auch keine Gerechtigkeit geben.

Konsequenzen

Anteilnahme und Beistand in der Trauer der Betroffenen sind das eine. Wir wollen aber auch mit euch gemeinsamen Druck entwickeln, um die Forderungen der „Initative 19. Februar“ durchzusetzen. Eine bittere Erkenntnis des letzten Jahres ist, dass all das was in Bewegung geriet, nur durch uns alle gemeinsam in Bewegung gesetzt worden ist.
Als Antifaschist*innen sehen wir die Ereignisse von Hanau auch als Konsequenz des bundesweiten, voranschreitenden Rechtsrucks an. Der Rassismus äußert sich strukturell und kulturell, die Perspektiven Betroffener werden nicht ernst genommen oder gleich völlig ausgeblendet. Im Namen der „Meinungsfreiheit“ wird dabei rassistischen Positionen der rote Teppich ausgerollt und eine Normalisierung des Alltagsrassismus das Wort geredet.
Sicherheitsbehörden, Bundeswehr, Polizei und andere Organe staatlichen Handelns sind von Rechts unterlaufen, das zeigen zahlreiche aufgedeckte rechte Chatgruppen, dubiose Waffengeschäfte oder die Bildung von paramilitärischen Strukturen wie „Nordkreuz“. Deshalb muss die erneute, nachhaltige Entnazifizierung, die Zerschlagung rechter Netzwerke eine Konsequenz aus den Ereignissen von Hanau und den vorliegenden Erkenntnissen sein.

Kein Schlussstrich. Für eine Gesellschaft der Vielen.

Die Gefahr eines Schlussstrichs ist droht. Denn der Wunsch der Politik, nach den von einer großen Öffentlichkeit erzwungenen Zugeständnissen zur „Normalität“ zurückzukehren, ist offensichtlich. Einem Prozess hat sich der Täter durch seinen Suizid entzogen. Die Sorge besteht, dass dieses Mal nicht das Schweigen, sondern das Reden darüber hinwegtäuscht, dass es keine Aufklärung, keine Gerechtigkeit und keine politischen Konsequenzen geben wird.

Darum braucht es eine neue Normalität. Eine Normalität, in der nicht diejenigen problematisiert werden, die vermeintlich anders aussehen - damit fängt es nämlich an-, sondern diejenigen, die menschenverachtendes verbreiten, Hass streuen, sich bewaffnen und die bereit sind andere Menschen zu töten.

Eine neue Normalität für die Gesellschaft der vielen! Dafür fordern wir eine echte Entnazifizierung der deutschen Politik, der Behörden und der Gesellschaft! Dafür müssen sich aber auch die Strukturen ändern, in denen wir leben. Wir müssen gegen die Reproduktion und Fortschreibung strukturellen und institutionellen Rassismus arbeiten, gegen die Borniertheit, gegen das Unbewusstsein, gegen die Ignoranz, die Kaltschnäuzigkeit der Behörden, wenn es um migrantisches Leben geht. Wir verteidigen die Gesellschaft der Vielen. Und dabei verlassen wir uns nicht auf staatliche Behörden oder Gerichtsurteile, damit es keinen Schlussstrich gibt.